Den folgenden Text habe ich vor einiger Zeit verfasst und heute zufällig wiederentdeckt. Ich hatte ihn in eine einfache Textdatei geschrieben, die vom 27. Februar 2003 datiert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass er durch die Anekdote, die ich darin eingearbeitet hatte, motiviert war. Der Text ist als Gedankensammlung zu sehen und wurde hier nur minimal angepasst. Alle Rollenbezeichnungen sind geschlechtsneutral aufzufassen. (Schade, dass man das heutzutage immer dazusagen muss.)
Warum Mathematik? Was kann man damit überhaupt machen?
Als Mathematiker eröffnen sich einem dieselben Möglichkeiten wie für Physiker, Informatiker oder Elektrotechniker. Dies zeigen zahlreiche Stellenangebote entweder explizit oder in der Form, dass eine gewisse “oder vergleichbare” Qualifikation gewünscht sei. Die Welt ist nicht so trivial, dass Elektrotechniker unbedingt Bauteile zusammenlöten, Informatiker etwas auf der Tastatur tippen oder Mathematiker etwas an die Tafel kritzeln müssen. Die Stärke der Mathematiker ist, wissenschaftliche und technische Probleme formalisieren zu können, gegebene Abhängigkeiten zu bestimmen und eine potentielle Lösung wieder in verständliche Sprache übersetzt zu präsentieren. Während Ingenieure ein Problem eher als ein individuelles ansehen, haben Mathematiker und Physiker die Tendenz, die Allgemeinheit eines Problems zu erkennen und eine entsprechende allgemeine Lösung zu präsentieren, die zur Lösung des speziellen Problems angepasst werden kann.
Techniker sind Spezialisten. Innerhalb ihres Fachbereiches können sie schnell Antworten liefern. Ihnen wurden bei ihren Studien zahlreiche Kochrezepte beigebracht, die sie auch erfolgreich anwenden. Kommt ein Problem allerdings an den Randbereich eines Fachgebietes, stoßen sie auch an die Grenzen ihres Verständnisses. Ein Beispiel ist mir selbst widerfahren: Eine Gruppe von Ingenieuren rätselte, wie oft die Gläser erklingen, wenn eine Gesellschaft von 9 Personen miteinander anstößt. Ein Mathematiker kann ihnen die Lösung sofort sagen und sie ihnen nachvollziehbar erklären, er kennt nämlich die Allgemeinheit des Problems: Es handelt sich um die Frage, wieviele Möglichkeiten es gibt, eine fixe Anzahl von Objekten aus einer größeren Menge auszuwählen; dies ermittelt der Binomialkoeffizient. Die Ingenieure rechnen herum und präsentieren eine völlig falsche, mit Denkfehlern behaftete Lösung, was zeigt, dass ein grundsätzliches Verständnis der Problemstellung schlicht nicht vorgelegen ist. Zeigt man ihnen dann die formalisierte Version des Binomialkoeffizienten, ist sie in ihren Augen lediglich eine weitere, trockene Formel.
Mich wundert nicht, dass Informatiker, die aus der Technik kommen, bei uns nicht-technischen Mathematikern um Nachhilfe ansuchen, da sie erkennen, dass sie zwar zahlreiche Methoden erlernt haben, aber nicht verstehen, warum diese gerade so aussehen und in einer bestimmten Situation überhaupt angewandt werden können.
Mathematiker arbeiten vom Allgemeinen ins Spezielle. Techniker gehen eher tief in ausgewählte Teilgebiete eines Fachgebietes hinein, während Mathematiker es eher “der Breite nach” machen. Dafür müssen sie bei neuen Themen nicht mehr so tief hineinschneiden wie Techniker. Mathematiker lernen Neues schneller.
Absolventen dieses Studiums haben viele Möglichkeiten. Es gibt in der Tat so gut wie keine Arbeitslosen unter ihnen. Der Großteil, das sind etwa 38% (Quelle unbekannt, Anm.), kommt in der Informatik unter. Viele treibt es auch zu Versicherungen. Dort betreiben sie zwar nur mehr marginale Mathematik, aber das mathematische Denken haben sie verinnerlicht - die eigentlichen Inhalte des Studiums gehen nämlich verloren, diese werden nur in der Forschung gebraucht.