Ich muss diese Gedanken und Beobachtungen festhalten, einfach als Dokumentation: Das Chaos namens Eduvidual, die Pein des notdürftig organisierten digitalen Schulunterrichts fern der Schule, begleitet abgehalten von den Eltern. (Hintergrundinfo: Unser Sohn hat im Herbst 2020, kurz vor der zweiten Welle der Coronavirus-Pandemie, in die mittlere Schulstufe gewechselt.)
Der Remote-Unterrichtstag hat für uns, also Eltern und Sohn, oft so geendet, dass wir uns durch alle Kommunikationskanäle und Webseiten geklickt haben, um sicher zu gehen, dass wir ja nichts übersehen haben. Oft war nicht ersichtlich, erstens, ob, und zweitens, wenn ja, wo die Hausübung und/oder Schulübung hochzuladen sind. Eduvidual ist sehr verwinkelt, einmal findet man die zu erledigende HÜ im Reiter Hausübung, ein andermal im Reiter Allgemein. Auf der zerkachelten Startseite gibt es in einem kleinen Seitenwidget eine Agenda, aber die ist nur nach Abgabedatum sortiert, nicht nach „was war heute“. Irgendwann wird klar, das ist nur die Abgabe-Agenda, die Unterrichtsplanung findet sich in der Kalenderfunktion, die nichts mit der Agenda zu tun hat. Die Unterseite für das tagesspezifische Hochladen der HÜ beinhaltet nur genau die Hochlademöglichkeit, keine Hinweise auf den Auftragsinhalt.
Im Microsoft Teams gibt es etliche „Mathematik 1b“ Kanäle, offenbar entsteht pro Unterrichtsstunde ein weiterer. Zum Glück erkenne ich dann, dass sie zeitlich sortiert sind. Dort ist aber auch nicht zu lesen, ob und wo/wie die SÜ/HÜ an die Lehrerin zu übermitteln sind. Zum Glück bekamen wir nach Nachfragen bei der Lehrerin (durch unseren Sohn im Teams-Chat) die Info, dass an dem Tag wirklich nichts dergleichen zu tun war.
Oder: Die Musik-HÜ war im entsprechenden Bereich auf Eduvidual, wo es logisch gewesen wäre, nicht zu finden, sondern im Endeffekt im Teams-Chat namens „D-Videokonferenz“, darin gefunden anhand der Suchfunktion, weil natürlich nachfolgende Dialoge diese Stelle hochgescrollt haben. Apropos Chat, natürlich sind die Infos verstreut in Chats auf WhatsApp, MS Teams und Eduvidual selbst.
Das Bedienen des PCs, der Applikationen am PC und der Webseiten im Rahmen des Remote-Unterrichts, die Digital-Analog-Digital-Konvertierung (runterladen, ausdrucken, ausfüllen, abfotografieren, hochladen), ist ein eigener Lernprozess, auch für mich als erfahrenen Computeranwender – denn ohne meine initiale Begleitung wäre das nicht so reibungslos verlaufen. (Dafür hatte ich mir schon im Vorhinein den Vormittag freigenommen.) Ich bin ohnehin positiv überrascht, dass mein Sohn sich damit recht schnell zurechtgefunden hat. Im allgemeinen denke ich aber, man darf nicht davon ausgehen, dass man mit den Kindern so kommunizieren kann, als wäre der Umgang mit dieser digitalen Krücke – es ist unterm Strich leider nur genau das – als selbstverständlich vorauszusetzen.
Zum Beispiel, wenn ein Abgabetermin näher rückt oder gar verstreicht, und die Lehrerin das Kind deswegen auf digitalem Wege ermahnt, bin ich nicht sicher, ob diese Botschaft überhaupt richtig ankommt, und wenn, ob der mahnende Ton nicht prinzipiell ungerechtfertigt ist. Denn der Lernprozess, mit dieser Krücke gehen zu lernen, lenkt m.E. irrsinnig vom eigentlichen Lernprozess ab, nämlich dem des Schulstoffs. Ein „digitales Versäumnis“ darf dann m.E. nicht als Versäumnis im Schulstoff bewertet und damit auch nicht entsprechend benotet werden. Älteren Kindern, die sich die Erfahrung bereits erarbeitet haben, ist das vermutlich eher zuzumuten.
Abgabetermine als künstliches Limit, z.B. Freitag 17 Uhr, sind sowas von willkürlich und unnötig. Wie kann die Schule/Lehrerin davon ausgehen, dass das Kind ein Arbeitsgerät besitzt, das zu der Zeit zugänglich ist? Vielleicht muss ein Elternteil ja sein Telework damit absolvieren, oder die Webplattform krepiert einem ohnehin mal wieder unter den Füßen weg? Oder was, wenn das Gerät überhaupt streikt? Wenn im Berufsleben ein Projekt nicht zustande kommt, wenn einfach nur das Gerät versagt, ist sogar das zu diskutieren, ob das dem/der Mitarbeiter/in anzulasten ist. Jungen Schülern kann man das sicher nicht abverlangen.
Überhaupt passiert es viel zu leicht, dass digitale Information eingesperrt ist, gefangen in irgendwelchen Kommunikationskanälen, die sich nur auf einem bestimmten Gerät unter einem bestimmten Benutzeraccount und dort in einer bestimmten Applikation, und dort wieder in einem bestimmten Bereich, abrufen lassen – und die muss man erst aufstöbern. Manches ist noch auf einer Webplattform, manches schon auf der Festplatte in einem Ordner. (Das schlimmste Informationsgefängnis ist sowieso ein Video.) Sich hier mit dem Kind gemeinsam ein Organisationskonzept zurechtzuschneidern und nach diesem zu arbeiten, das braucht seine Zeit.
Super war auch: Wie tritt man mit der Lehrerin in Kontakt, wenn man nach dem verstrichenen Abgabetermin doch noch ein Dokument übermitteln möchte? Erledigt war es ja, nur übermittelt halt nicht. (Wer sagt, „nicht abgegeben ist nicht abgegeben“, bekommt von mir einen Faustschlag verpasst.) Der Uploadbereich ist bereits künstlich gesperrt, im Eduvidual-Chat kann man keine Dateien senden. Man kann sich zum Profil der Lehrerin vorklicken, dort geht’s aber nicht weiter. Im Endeffekt hilft mir die Erfahrung: Im Outlook gibt es ein Adressbuch. So konnten wir der Lehrerin eine E-Mail mit Bitte um Berücksichtigung, inkl. Dateianhang, senden. Puh, mal wieder den Kampf gegen Digi-Goliath geschafft. Am nächsten Tag eine Eduvidual-Message von der Lehrerin an unseren Sohn: Ob er eine Frage hätte, denn sie hätte eine Kontaktanfrage von ihm erhalten. (Hä?) Fünf Tage später eine Antwort von ihr auf unsere ursprüngliche E-Mail: Sie könne leider erst jetzt antworten, denn sie hätte ihren E-Mail-Account erst jetzt freigeschaltet. (Die versäumte Abgabe ist zum Glück nicht negativ bewertet worden.)
Ich höre von einem Kollegen (Softwareentwickler), dass er seiner Mutter (Lehrerin) immer wieder helfen musste, den Klassenkanal auf MS Teams einzurichten. Offensichtlich herrscht auf beiden Seiten der gleiche Frust, man stützt sich also auf beiden Seiten nur auf eine Krücke. Möglicherweise wird man das Schuljahr mit allen Defiziten einfach zum Abschluss bringen und diese Defizite im Jahr (oder den Jahren?) darauf langsam ausmerzen. (Wie das mit der Matura gehen soll, das wird noch interessant.) Ich denke nicht, dass Klassenwiederholungen im großen Stil stattfinden müssen. Immerhin herrscht ja nur eine Krise, keine Not.
Ich sage seit einigen Jahren immer wieder mit Augenzwinkern: Wenn ich mal im Lotto gewinne, dann unterrichte ich meine Kinder selbst. So schlimm würde es meine Kids da nicht erwischen, denke ich.
Addendum 24.02.
Noch eine nette Geschichte: Angenommen, die Lehrer/in übermittelt einen Arbeitsauftrag und gibt versehentlich eine falsche Datei als Anhang mit. Es gibt de facto keine Möglichkeit, auf die Undurchführbarkeit der Aufgabe hinzuweisen.
Eine weitere unglaublich nervenaufreibende Angelegenheit ist die Abwesenheit von Benachrichtigungen, die auf neu bereitgestellte oder geänderte Inhalte auf Eduvidual hinweisen. Man müsste de facto das einleitend beschriebene Durchklicken stündlich wiederholen, man müsste ständig pollen, ob nicht z.B. doch noch um 11:30 Uhr ein Arbeitsauftrag online gestellt worden ist, der bis um 17 Uhr zu erledigen gewesen wäre. Oida, geht’s noch? Die Hoffnung, mit der Moodle-App am Smartphone die Plattform näher in Griffweite zu haben, erfüllt sich nicht, denn dort werden gewisse Inhalte nicht wiedergegeben.
Mittlerweile gibt es ja dieses herrlich chaotische Alternieren von Gruppe A, die Montag/Dienstag in der Schule ist, während Gruppe B zuhause Arbeitsaufträge bekommt, wonach Mittwoch/Donnerstag das ganze umgedreht wird, Freitag alle zuhause sind, und in der Woche darauf Gruppe A und B vertauschte Rollen haben. Nicht mitgekommen? Jawohl, korrekt! Die Kinder kommen völlig aus dem Rhythmus, wissen teilweise nicht, welcher Tag überhaupt ist, und ob nun Wochenende ist oder etwas zu tun ist – das erscheint so völlig unvermittelt und willkürlich. Gruppe A bekommt über Eduvidual einen Hinweis, dass am Montag eine Deutsch-Wiederholung ist, Gruppe B erfährt davon in der Schule nichts. Gruppe A erfährt in der Schule, dass nächste Woche Englischschularbeit ist, Gruppe B weiß zuhause von nichts.
Schön langsam drängt sich der Gedanke auf, zu fordern, dieses Schuljahr nicht zu benoten. Wem ist eigentlich dieser „Gruppe A/B“-Scheiß eingefallen? Ich würde gerne dem Impuls nachgeben und meinen Sohn davon freisprechen, an diesem Theater teilzunehmen! Bisher haben viele still gehalten und diese Bürde auf sich genommen, es sollte ja alles nur eine vorübergehende Krücke sein. Wer ist schon gerne der Querulant und riskiert, dass dann der eigene Sprössling die Retourkutsche abbekommt? Es ist aber kein Ende abzusehen, es werden Maßnahmen angesichts eines epidemologischen Kipppunkts gelockert, beim Impfen geht auch nichts weiter, es werden zuerst Menschen geimpft, die auf der Intensivstation sowieso nicht mehr beatmet werden würden. Dann gehen die Egoisten auf die Straße und fordern ihr Lotterleben zurück, das niemandem jemals zugestanden ist. Bald werden Eltern vermehrt andere/weitere Probleme haben als nur die Schulbildung ihrer Kinder, nämlich existenzielle. Wird’s jetzt besser oder schlimmer? Meinem Gefühl nach müsste man Erleichterung ab ca. drei Monaten vorher langsam wahrnehmen können. Ich verspüre eher das Gegenteil davon.